Von einer 3.40 Meter breiten Papierrolle werden 12 Bahnen von je 25 Metern Länge abgeschnitten und zusammengeklebt. Die daraus resultierende rechteckige Fläche von 1000 m2 Papier wird in tagelanger Handarbeit zerknüllt, geknittert und zu einem Ballen
von 160 x 180 x 70 cm gepresst. Dieser be- findet sich zu Beginn der Performance in
der Mitte des 136 m2 grossen Ausstellungs- raums. Ich kappe die weissen zusammen- haltenden Schnüre und löse die Papiermassen wieder voneinander, verteile sie vorsichtig ziehend im Raum oder stemme mich mit dem ganzen Körper dazwischen, krieche unter die Fluten und lasse sie in die Höhe steigen. Durch die Faltungen erreicht das 80grämmige Schreibpapier Stabilität. Die anlässlich der Vernissage entstandene Skulptur füllt während der Dauer der Ausstellung den grossen Oberlichtsaal.
Entfaltungsmöglichkeiten
Das Papier entfaltet sich, es wird lebendig und nimmt Raum ein. Seine Gestalt löst in meiner Wahrnehmung Vergleiche aus, so als könnte
das, was ich sehe, nicht bloss Papier sein: wie die Federdecke der Frau Holle, wie das Meer in Fellinis Film Casanova, wie der knietiefe Schaum am Ufer des Lago Colorado, wie der Gletscher auf einem alten
Gemälde, wie der Eisberg, an dem Schiffe zerschellen. Diese Vergleiche sind wie ein Glückshormon, denn das, was ich sehe – das Papier, die künstlerische Arbeit –, öffnet mir die Türen zu meiner eigenen Geschichte. Mit einem Mal jedoch nimmt das Papier so viel Raum ein, dass ich
und die Menschen neben mir dicht an die Wand gedrängt werden. Es wird eng, wir machen uns dünn und rempeln uns an, meine inneren Bilder verblassen, das Papier hingegen wird immer grösser und macht sich Luft. Mein Hinsehen und Vergleichen verwandelt sich in ein Betroffensein, das sich in einem unwohligen Gefühl bemerkbar macht: Es ist mein Platz, der das Papier jetzt für sich beansprucht, ich selbst habe durch seine Entfaltung weniger Entfaltungsmöglichkeiten, meine Bewegungsfreiheit wird kleiner. Dieses Gefühl der Enge, das weiss ich, stammt aus der Vergangenheit, das Gefühl ist meine Interpretation,
ich könnte das Papier zerreissen, es wegstossen, es ist schliesslich bloss Papier. Einzig das, was ich im Augenblick spüre, ist unmittelbar wirklich: die Wärme der Menschen neben mir, die Muskelspannung, der
Druck der Wand, die Berührung meines Schenkels mit dem Papier.
— Karin Schneuwly